Die Luthersache und die politische Situation im Reich um 1520

Am 31. Oktober 1517 sandte der Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther 95 Thesen gegen die zeitgenössische Ablasspraxis an Albrecht von Brandenburg, der als Erzbischof von Mainz und Magdeburg sowie Administrator des Bistums Halberstadt gerade in seinen Territorien einen Plenarablass verkündigen ließ, sowie an den für Wittenberg zuständigen Ortsbischof Hieronymus Schultz. Durch Abschriften, Nachdrucke und deutsche Übersetzungen verbreiteten sich die Thesen rasch.1 Der in Albrechts Territorien als Ablasskommissar fungierende Dominikaner Johannes Tetzel, sein Ordensbruder Konrad Wimpina und der Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck verurteilten sie als häretisch.2 Nachdem Albrecht von Mainz Luther zunächst wegen Behinderung der Ablassverkündigung beim Papst angezeigt hatte, entwickelte sich das Verfahren im Laufe des Frühjahrs 1518 zum Häresieprozess.3 Am 7. August 1518 erhielt Luther eine Vorladung, in der er aufgefordert wurde, sich binnen 60 Tagen in Rom zu verantworten.4

Luther bat seinen Landesherrn, Kurfürst Friedrich den Weisen von Sachsen, sich zusammen mit Kaiser Maximilian I. dafür einzusetzen, dass die Angelegenheit im Reich verhandelt würde.5 Zur gleichen Zeit versuchte Kaiser Maximilian I. seinen Enkel Karl in seiner Nachfolge zum römischen König wählen zu lassen und damit faktisch das Kaisertum an die Dynastie der Habsburger zu binden. Die Kurie hegte Befürchtungen gegenüber einem daraus resultierenden habsburgischen Machtzuwachs. Um diese Situation zu kontrollieren, lag ihr daran, sich Friedrich den Weisen als wichtigen reichsständischen Gegner dieses Plans gewogen zu halten.6 Der päpstliche Legat Thomas de Vio aus Gaeta, genannt Cajetan, der von Leo X. bevollmächtigt worden war, Luther zu verhören,7 bot daher zunächst an, mit Luther in Augsburg ein Gespräch zu führen. Erst nachdem dieses ergebnislos verlaufen war,8 forderte er den Kurfürsten auf, Luther an den päpstlichen Stuhl auszuliefern. Da Friedrich sich weigerte, wurde der sächsische Vertreter in Rom, der päpstliche Kammerherr Karl von Miltitz, nach Sachsen gesandt, um ihn zum Einlenken zu bewegen. Miltitz bemühte sich im Folgenden um Vermittlung.9

Der Häresieprozess gegen Luther geriet ins Stocken, da Kaiser Maximilian im Januar 1519 starb und die Kurie zur Wahrung ihrer Interessen in der Frage der Kaiserwahl auf die Unterstützung Friedrichs des Weisen hoffte. Am 28. Juni 1519 wurde Karl V. zum römischen König und damit zum zukünftigen Kaiser gewählt.10 Friedrich der Weise und Miltitz strebten an, dass Richard von Greiffenklau, Erzbischof von Trier, Luther auf dem nächsten Reichstag verhören solle.11 Inzwischen zog jedoch der Papst den Häresieprozess von neuem an sich und erließ am 15. Juni 1520 die Bannandrohungsbulle »Exsurge Domine«. Am 3. Januar 1521 folgte die Bannbulle »Decet Romanum Pontificem«.12 Der päpstliche Nuntius Hieronymus Aleander bemühte sich, Karl V. zu einem Edikt zu bewegen, das dem päpstlichen Bann - wie im kanonischen Recht vorgesehen - die Reichsacht folgen ließ.13

Der Wormser Reichstag von 1521

Am 23. Oktober 1520 wurde Karl V. in Aachen gekrönt. Am 27. Januar 1521 eröffnete er seinen ersten Reichstag in Worms. Während er sich finanzielle Unterstützung der Reichsstände für seine militärischen Auseinandersetungen mit Frankreich erhoffte, waren die Stände an Neuregelungen für Reichsregiment und Reichskammergericht interessiert. Der Umgang mit der Luthersache war zunächst unklar.14 Anfang Februar wurden Ausschüsse gebildet, die Konzepte für eine Reichsreform ausarbeiteten.15 Parallel dazu bemühte sich der sächsische Kanzler Gregor Brück in Gesprächen mit dem kaiserlichen Beichtvater Johannes Glapion, auf ein Verhör Luthers auf dem Reichstag hinzuwirken.16 Aleander versuchte hingegen, den Kaiser zum Erlass eines Edikts gegen Luther und dessen Anhänger zu bewegen, das nicht zuvor von den Ständen verhandelt würde. Ein nicht-ständischer, von kaiserlicher Seite bestellter Ausschuss17 entwarf auf Grundlage von Konzepten Aleanders den lateinischen Text eines solchen Edikts, der im Anschluss ins Deutsche übersetzt wurde.18

Der Kaiser erklärte zwar seine Absicht, ein gegen Luther gerichtetes Mandat für das Reich und die habsburgischen Erblande zu erlassen, legte den vom Ausschuss entworfenen Text aber am 15. Februar den Reichsständen zur Beratung vor.19 Am 19. Februar lehnten die Stände den Entwurf mit dem Argument ab, die mit Luther sympathisierende Öffentlichkeit könnte darauf mit Aufruhr reagieren. Mit Rücksicht darauf solle Luther zunächst auf dem Reichstag Gehör gegeben werden.20 Der Kaiser bestand darauf, dass das päpstliche Häresieurteil nicht infrage gestellt werden dürfe. Luther solle nur befragt werden, ob er sich zu seinen Schriften bekenne und ob er bereit sei, deren Lehre zu widerrufen.21 Unter dieser Bedingung zeigte er sich bereit, Luther vorladen zu lassen, hielt jedoch dezidiert fest, dass er ein Mandat gegen Luther erlassen werde, wenn dieser nicht kommen oder nicht widerrufen sollte.22 Durch eine Kommission aus Bischöfen und Gelehrten hatte er inzwischen einen neuen Entwurf für ein solches Mandat erstellen lassen.23 Am 6. März befahl er Luther, sich binnen 21 Tagen nach Worms zu begeben, und gewährte ihm freies Geleit.24 Zugleich ordnete er jedoch am 10. März - ohne Konsultation der Stände - die obrigkeitliche Einziehung aller Schriften Luthers im Reich und in den habsburgischen Erblanden an und verbot ihren Druck und Verkauf.25

Am 16. April traf Luther in Worms ein. In der Reichstagssitzung am folgenden Tag wurde er durch den kurtrierischen Offizial Johann von der Ecken verhört. Dieser legte ihm zunächst eine Reihe von Schriften vor und fragte ihn, ob er diese Texte als seine anerkenne. Dies bejahte Luther, während er sich auf die Frage, ob er zum Widerruf bereit sei, Bedenkzeit erbat. Ihm wurde ein Tag Aufschub gewährt. In der Sitzung am 18. April unterschied Luther dann zwischen drei Gruppen von Schriften: Die erste behandle Glaube und Sitten so, dass auch seine Gegner nichts dagegen einwenden könnten; die zweite bekämpfe Gesetze des Papstes, die Evangelium und Kirchenvätern widersprächen; die dritte wende sich gegen einzelne Anhänger des Papstes. Auf die Aufforderung, eindeutig zu sagen, ob er nun widerrufen wolle oder nicht, entgegnete er, dass er dies nicht könne, da sein Gewissen an Gottes Wort gebunden sei.26 Die Stände setzten daraufhin einen Ausschuss ein, der Luther am 24. April vorlud und ihn erfolglos zum Einlenken zu bewegen versuchte.27 Auch ein Gespräch, das Richard von Greiffenklau, der Erzbischof von Trier, am Rande dieser Verhandlungen mit Luther und einigen Gelehrten führte, änderte nichts an der Situation.28 Am 26. April reiste Luther ab; Friedrich der Weise ließ ihn unter falschem Namen auf der Wartburg in Sicherheit bringen.29

Die Entstehung des Wormser Edikts

In der Reichstagssitzung vom 30. April einigten sich die kaiserlichen Räte mit den Ständen darauf, dass der Kaiser ein Edikt gegen Luther erlassen, es aber zuvor dem Reichstag zur Stellungnahme vorlegen solle.30 Am 1. Mai wurde Aleander beauftragt, einen Text dafür auszuarbeiten. Bei dieser Arbeit griff er auf eigene frühere Entwürfe zurück31 und konnte so bereits am 2. Mai den kaiserlichen Räten einen lateinischen Text vorlegen.32 Auf deren Wunsch wurden in den folgenden Tagen Änderungen vorgenommen.33 Nachdem der überarbeitete Text von den kaiserlichen Sekretären Nikolaus Ziegler und Jakob Spiegel ins Deutsche übersetzt worden war,34 sandte Aleander die deutsche und die lateinische Fassung an den kaiserlichen Vizekanzler Mercurino de Gattinara.35

In einem Gespräch am 8. Mai überzeugte Aleander den Kaiser, das Mandat nicht noch einmal dem Rat vorzulegen, sondern es in der vorliegenden Form in Kraft zu setzen.36 Der lateinische und deutsche Text wurden daraufhin in Reinschrift als Pergamenturkunden ausgefertigt; für den deutschen Text beauftragte Aleander bereits einen Drucker. Als dem Kaiser das Edikt am 12. Mai zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, verschob dieser aber die Unterschrift, bis er sich noch einmal mit den Ständen beraten habe. Auf Aleanders Einspruch hin ließ er mitteilen, dass er das Mandat in den habsburgischen Erblanden auf jeden Fall erlassen und umsetzen werde. Damit es im Reich tatsächlich befolgt würde, müsse es aber den Ständen zur Kenntnisnahme vorgelegt werden.37 Aleander befürchtete daraufhin, die Stände könnten das Edikt blockieren oder die darin für Luther sowie dessen Anhänger und Unterstützer vorgesehene Reichsacht38 zu einer geringeren Strafe abschwächen. Er bat Albrecht von Mainz, dem entgegenzuwirken.39

Letztlich wurde das Edikt den Ständen nicht zur inhaltlichen Beratung, sondern ausschließlich zur Kenntnisnahme vorgelegt. Einige Änderungen am deutschen Text, die der offizielle Druck gegenüber der (bereits fertigen) Reinschrift der Urkunde aufweist, könnten allerdings auf diese Phase zurückgehen.40 Die Verlesung erfolgte erst am 25. Mai und nicht in der eigentlichen Reichstagssitzung. Vielmehr trug Gattinara den Text des Edikts bei einer anschließenden Zusammenkunft im Palast des Kaisers vor.41 Joachim von Brandenburg erklärte im Namen der anwesenden Kurfürsten und Fürsten die Zustimmung der Stände.42 Am 26. Mai unterzeichnete der Kaiser sowohl die für das Reich gültige deutsche als auch die für die Erblande des Kaisers bestimmte lateinische Fassung43 und erließ ein Publikationsmandat.44

Verbreitung und Rezeption des Edikts

Der deutsche Text des Edikts wurde noch in Worms gedruckt und an die Reichsstände verteilt.45 Die Kurie instruierte die Nuntien Aleander und Eck, für die Verbreitung und Umsetzung im Reich und in den Erblanden zu sorgen.46 Fürsten wie Joachim von Brandenburg, Konrad von Würzburg, Wilhelm IV. von Bayern und Ludwig von Bayern ließen das Edikt umgehend veröffentlichen und nachdrucken.47 Nürnberg, Ulm und andere Reichsstädte dagegen verzögerten die öffentliche Verkündung bis in den Oktober hinein.48 Im norddeutschen Raum gab nur Heinrich von Braunschweig einen Durchführungserlass heraus.49 Da der Kaiser inzwischen das Reich verlassen hatte, war das Reichsregiment für weitere Regelungen zuständig und erließ am 20. Januar 1522 ein Mandat, das Maßnahmen gegen kirchliche Neuerungen vorsah.50 Das bot etwa den Bischöfen von Meißen, Merseburg, Freising und Augsburg eine Handhabe, gegen Evangelische vorzugehen; Georg von Sachsen sowie die bayerischen Herzöge publizierten eigene Religionsmandate. Andere Stände reagierten dagegen nicht oder beschränkten sich wie die Kurpfalz und Baden-Durlach auf ein allgemeines Verbot religiöser Polemik.51

Die lateinische, für die Erblande des Kaisers bestimmte Fassung des Edikts ließ Aleander zwischen dem 19. und 27. Juni 1521 in Löwen drucken.52 Im Anschluss begab er sich an den kaiserlichen Hof, der mittlerweile in die Niederlande gezogen war. Auf Verlangen der kaiserlichen Regierung in Brüssel wurde der Text von deren Sekretär Jean Hannart ins Flämische und von Aleander ins Französische übertragen. Nachdem Aleander diese Fassungen in Antwerpen hatte drucken lassen, wurden sie am 11. und 12. Juli von der brabantischen Kanzlei offiziell in Kraft gesetzt.53 Aleander versandte die verschiedenen Druckfassungen an Bischöfe in den Niederlanden und im Reich und ordnete die öffentliche Verlesung des Edikts an.54 In Antwerpen, Gent und weiteren Städten wurden nun Lutherschriften verbrannt.55 Im Folgenden bildete das Edikt die Rechtsgrundlage für die massive obrigkeitliche Verfolgung Evangelischer in den spanischen Niederlanden.56 Ebenso wurde es der habsburgischen Religionspolitik in Vorderösterreich zugrunde gelegt.57

Im Reich hingegen boten der Nürnberger Reichstagsabschied von 1522/23 und das folgende Mandat des Reichsregiments den Ständen weiterhin Spielraum bei der Umsetzung des Wormser Edikts.58 Der Nürnberger Reichstagsabschied von 1524 verpflichtete die Stände, dem Edikt »sovil inen muglich, zu geleben, gemess zu halten und nachzukomen«.59 Das Reichsregiment ließ das Edikt daraufhin neu drucken und den Ständen zusammen mit dem Abschied zustellen. Während Georg von Sachsen, Joachim von Brandenburg, die Herzöge von Bayern und weitere altgläubige Fürsten die Befolgung des Edikts einschärften und teils Nachdrucke veranlassten, verweigerte Friedrich der Weise die Anerkennung des Religionsabschieds; in Territorien wie der Kurpfalz und Brandenburg-Ansbach wurde die Frage in der Schwebe gehalten.60 Der Reichstag zu Speyer 1526 beschloss im Hinblick auf die Umsetzung des Wormser Edikts eine dissimulierende Formulierung (»Verantwortungsformel«).61 Gegen die Aufhebung dieses Abschieds durch Karl V. legten die evangelischen Fürsten auf dem Reichstag zu Speyer 1529 eine Protestation vor.62 Im Augsburger Reichstagsabschied von 1530 wurde die Geltung des Wormser Edikts erneut eingeschärft, wenngleich diese in den folgenden Jahren immer wieder durch provisorische Regelungen zur Duldung Evangelischer sistiert wurde.63 Erst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde das Wormser Edikt reichsrechtlich obsolet.64

Unterzeichner

Als kaiserliches Edikt ist das Wormser Edikt von Kaiser Karl V. unterzeichnet. Die deutsche, für das Reich gültige Textfassung trägt in der Urkunde außerdem die Unterschrift Gattinaras und den Registraturvermerk der deutschen Kanzlei. Die Urkunde der lateinischen, für die Erblande des Kaisers bestimmten Fassung ist vom kaiserlichen Rat Jean Hannart mit unterzeichnet und von der österreichisch-burgundischen Kanzlei registriert.65

Unterhändler

Das Edikt wurde vom Nuntius Hieronymus Aleander entworfen und von den kaiserlichen Sekretären Nikolaus Ziegler und Jakob Spiegel ins Deutsche übertragen. Im Anschluss wurde der Text vom Kaiser und seinem Rat nochmals überarbeitet.66

Deutscher Text

Lateinischer Text

Editionen

Forschungsliteratur (Auswahl)

• Kohnle, Armin, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Gütersloh 2001 (QFRG 72), S. 22-104.
• Wohlfeil, Rainer, Der Wormser Reichstag von 1521 (Gesamtdarstellung), in: Reuter, Fritz u.a. (Hg.), Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, Worms 1971, S. 59-154.